25.5.2021
Von Philip Husemann, Co-Geschäftsführer JoinPolitics
Neue Zeiten brauchen neue Politik. So lautet ein zentraler Slogan von JoinPolitics, der zugleich unsere Mission umreißt, politische Talente mit frischen politischen Ideen zu fördern. Bewusst sagen wir: die perfekten Antworten, wie die Politik im 21. Jahrhundert auszusehen hat, haben auch wir bei JoinPolitics nicht. Aber wir glauben fest daran, dass wir die richtigen Personen finden und fördern können, die eben diese Antworten liefern und in die Umsetzung bringen.
Mit dieser Art der politischen Talent- und Ideenförderung betreten wir Neuland. Da hilft Orientierung ungemein, sehr gerne in Form schlauer Bücher von schlauen Menschen. Regelmäßig werden wir auf diesem Blog Bücher vorstellen, die uns inspirieren und helfen, unsere eigene politische Idee, nämlich JoinPolitics, weiterzuentwickeln. Getreu dem Motto: Lies gute Bücher und sprich darüber, lege ich gleich mal los. Mit drei Buchtipps, die nichts weniger wollen als Gesellschaft, Staat und Parteien systemisch zu transformieren.
1. Marc Saxer, Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise
“Joe Biden hat mich echt überrascht. Ich fand seine Kampagne langweilig, aber das, was er jetzt politisch umsetzt, hat viel mit Transformativen Realismus zu tun”, sagt mir Marc Saxer, Autor und leitender Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, in unserem Gespräch bei Zoom.
Und in der Tat verblüfft das, was in den USA gerade passiert. “Ein alter weißer Mann macht Tempo in Amerika”, schrieb kürzlich Die Zeit. Und diese Ironie und Ambiguität dürfte auch Marc Saxer gefallen, der nicht nur mit neoliberalen Bewahrern, sondern auch mit der linken Identitätspolitik hart ins Gericht geht.
Aber der Reihe nach: Was ist der Transformative Realismus und was hat er mit Biden, dem Neoliberalismus und den gesellschaftlichen Kulturkämpfen zu tun? Für Saxer zeigt sich in Bidens Politik ein längst überfälliger Paradigmenwechsel, der schleichende Tod des Neoliberalismus wird offenkundig. Eine Ideologie, so Saxer, die bis weit ins bürgerliche Lager nicht mehr trage. Und was kommt jetzt? “Ich grenze mich mit dem Transformativen Realismus gegen die aktuell vorherrschende, technokratische Spiegelstrich-Politik ab, prägend für die Merkel-Ära und den Politikstil der Boomer-Generation. Große Entwürfe, Disruptionen oder gar die Anerkennung, dass es eine Systemkrise und Handlungsdruck gibt, sind hier nicht vorgesehen”, führt Saxer aus.
Unter Systemkrise versteht Marc Saxer die Summe aller Krisen, wie er gleich zu Beginn seines Buches ausführt: “Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Demokratiekrise, Klimakrise, Coronakrise. Krise überall. Die Welt kommt scheinbar gar nicht mehr zur Ruhe. Kaum ist ein Feuer ausgetreten, lodert ein anderes auf. Jetzt aber ist der Feuerlöscher leer, und es brennt weiter lichterloh.”
Wer zusätzlich Öl in diese Feuer gießt, und hier nimmt das Buch eine interessante Wende, seien diejenigen, die moralischen Aktivismus im linksliberalen Gewand betrieben. Deren kompromisslosen, puristischen politischen Forderungen seien politisch untauglich, weil nicht mehrheits- bzw. hegemoniefähig: “Weder das Klein-Klein der Technokraten noch der moralische Aktivismus aus progressiven Kreisen werden irgendetwas verändern”, so Saxer.
“Wir müssen die Leute aus dem Status quo rüberholen in die Transformative Allianz”
Transformation ist nach Marc Saxer nur dann möglich, wenn der Pfadwechsel gewollt und breit erkämpft wird. Und wer ihn erkämpfen will, braucht dafür Machtmittel. Und kein vereinzeltes Milieu, keine singuläre Identität hat auf sich allein gestellt die Macht dazu. Der Transformative Realismus beginnt also dort, wo Menschen Allianzen schmieden und Brücken bauen - und eine Plattform, die sehr verschiedene Menschen und Lebenswelten zusammenführt und möglichst viele Machtressourcen, vom Geld über den Diskurs bis zum Wissen, für den Pfadwechsel nutzbar macht.
Mir gefällt an Marcs Buch, dass er vermeintlich Gegensätzliches zusammen denkt: Den nüchternen Realismus und die an Utopien ausgerichtete Transformation. Die vegan lebende Friday For Future Aktivistin und den Industriearbeiter am Weber Grill. Nur in dieser Dialektik kann echte Veränderung entstehen. Nur in dieser Allianz wird aus einem Sleepy Joe ein Speedy Joe.
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2. Mariana Mazzucato, Mission Economy: A Moonshot Guide to Changing Capitalism
Für Mariana Mazzucato ist klar, wer die Lösungskompetenz für die großen Fragen unserer Zeit hat: der Staat. Ihr viel beachtetes Buch liest sich wie das Playbook der staatlichen Investitionspolitik Joe Bidens, ein “Comeback des Staates”, schreibt das Handelsblatt.
Um ihre These vom smart investierenden Staat zu untermauern, nutzt Mazzucato das Bild des Moonshots, und zwar des buchstäblichen vom 20. Juli 1969. Um die Mondlandung zum Erfolg zu führen, musste der Staat zahlreiche komplexe Probleme lösen und auch risikoreich in Innovationen investieren, stets in enger Partnerschaft mit der Wirtschaft. Die italienische Wirtschaftswissenschaftlerin führt aus, dass zahlreiche technologische Disruptionen im direkten Zusammenhang mit staatlichem Risikokapital der Moonshot-Mission stehen, etwa die Entwicklung der Computertomographie.
Auf der Suche nach dem nächsten, postpandemischen Moonshot blickt Mazzucato, wenig überraschend, nicht ins Silicon Valley zu den Googles und Facebooks, sondern sieht erneut die Stunde des Staates kommen. Und die politische Praxis scheint ihre Theorie zu bestätigen: Das Next Generation Paket der EU ist nichts anderes als ein massiver wirtschaftspolitischer Wiederaufbaufonds für Europa, 750 Milliarden Euro schwer. Und die USA unter Biden bereiten einen staatlichen Moonshot vor, der dreimal so groß ist wie der europäische: Über zwei Billionen Dollar fließen in die gesellschaftliche Modernisierung. Selbst die vielzitierte Reform-Ära des New Deals unter Franklin D. Roosevelt sieht dagegen alt aus.
Vieles spricht dafür, dass die Ideen von Mariana Mazzucato eine neue Zeit neuer Politik einläuten könnten und sich diese Politik, um hier den Bogen zu Marc Saxer zu schlagen, transformativ, aber realistisch gestaltet. Man darf gespannt sein und sollte Mazzucato lesen.
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3. Hanno Burmester, Clemens Holtmann, Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt
“Junge Menschen haben eine große Sehnsucht nach Veränderung. Es gibt ein riesiges Potential, diese Menschen politisch zu begeistern und für etwas gesellschaftlich Wirksames einzubinden”, sagt Hanno Burmester, Autor und Fellow von JoinPolitics, im Interview mit dem Deutschlandfunk.
Diese Zuversicht tut gut und die braucht man, wenn man Hannos sehr alltagsnahe und persönliche Problembeschreibung parteipolitischem Engagements liest: “Ein Berliner Sommerabend vor ein paar Jahren. Ich, Hanno, mache mich auf den Weg in den Berliner Südwesten. Der dortige Vorsitzende des SPD-Ortsvereins hat mich gebeten, mit den Mitgliedern über die Zukunft politischer Parteien zu sprechen.” Was folgt ist eine tragikomische Darstellung gelebter Demokratie: Eine Ingroup, die mit Fremden fremdelt und nicht mal grüßt. Ältere Herren, die ihre Professorentitel und jahrelange Parteimitgliedschaft in Co-Referaten überbetonen, Hannos Gedanken als “Unfug” und “Schwachsinn” abtun.
“Was mich an diesem ohnehin unsäglichen Gespräch weiter schockiert, ist die Art und Weise, mit der viele der älteren Mitglieder mit den jüngeren Genossinnen umgehen. Belehrend im Tonfall, herablassend in der Körpersprache. Wie kann es sein, dass eine Partei, die Solidarität und Gerechtigkeit als Grundwerte hochhält, so eine “Kultur” des zwischenmenschlichen Umgangs pflegt?”
Mir geht diese Szene nicht aus dem Kopf. Zum einen weil ich sie so ähnlich selbst erlebt habe, zum anderen weil ich glaube, dass diese gelebte Unkultur ein zentraler Grund ist, warum sich viele politische Menschen nicht in Parteien engagieren – und warum viele Parteien so existenziell unter Mitgliederschwund, Karteileichen und Vergreisung leiden.
Die Ausgangslage des Buches ist spannend: Wir haben einerseits eine große Begeisterung, Dringlichkeit und Emotionalität für politisches Engagement, siehe Fridays For Future. Und andererseits verkrustete Partei-Strukturen samt Organisationskultur, die junge politisch Engagierte nicht nur abschreckt, nein noch schlimmer: die Parteikultur hat nicht die geringste Relevanz in ihrer Lebenswelt, ihrem Alltag.
Wie kommen die Parteien raus aus dieser Sinnkrise und wie (re)formulieren sie ihren konkreten Daseinszweck im 21. Jahrhundert? Jeder Transformation, so Hanno, liege ein produktiv zerstörerischer Kern zugrunde. Die entscheidende Frage sei: entsteht daraus etwas positives Neues oder ist etwas kaputt gegangen?
Hanno Burmester und Clemens Holtmann stellen für dieses konstruktive Dekonstruieren ein Buch bereit, das sich wie ein Leitfaden zur Gründung einer neuen, transformativen Partei liest. Im Kapitel “Betriebssystem” findet man reichlich Anregung zum Aufbau und zur Entwicklung der Organisation, der Führungsstruktur und zur wertegeleiteten Kultur. Die Autoren schlagen unter anderem vor, dass Parteien stärker Expert*innen in ihre inhaltliche Arbeit einbinden, etwa die Krankenschwester, die nach der Nachtschicht eben keine Plakate kleben muss oder beim Ortsverein durch Anwesenheit zu glänzen hat, sondern agil und gerne digital, so wie es halt passt, zu gesundheitspolitischen Themen beraten kann.
Diese Partei neuen Typus hat alleine schon deshalb ihre Daseinsberechtigung, weil sie als Einheizerin und Innovationstreiberin dem derzeitigen Parteienwettbewerb gut täte. Ich bin sehr gespannt, ob Hannos und Clemens’ Liebeserklärung erwidert wird – und in einer Parteigründung mündet. Die großen Fragen unserer Zeit laden zur Experimentierfreude ein. Freiwillige und Mutige vor, gerne schon zur nächsten Bewerbungsrunde von JoinPolitics.
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